Eine tierische Weihnachtsgeschichte


So konnte es nicht weitergehen! Alle Tiere des Hofes hatten sich im langen
Stallgebäude vor der Schafweide versammelt. Es musste etwas geschehen, und jetzt
war die passende Zeit dafür: Weihnachten. Da waren sich alle Tierbewohner der Farm
einig. Doch was sollte man tun? Niemand konnte mit den Menschen reden. Sogar die
schlaue Stute Herminda schnaubte ratlos mit ihren Nüstern.


„Darf ich einen Vorschlag machen?“
Alle Versammlungsmitglieder verstummten. Woher kam die schnatternde Stimme? Die Tiere blickten verwirrt von einem zum anderen. „Ich bin’s, hier unten.“


Zahlreiche Augenpaare richteten sich gen Boden. Die alte Ente Erna vom Fischteich hinter dem Wald! Sie war beliebt bei den Tieren, trotz ihres mittlerweile völlig zerrupften
Bürzels. Erna hatte stets ein offenes Ohr, wenn jemand mit seinen Sorgen zu ihr an den Teich kam, nahm sich Zeit, jeden Hofbewohner anzuhören.

Die meisten Tiere kannten sie bereits aus ihrer Kinderzeit. Erna schien schon immer am Hof gelebt zu haben.
„Wir sind gespannt auf deinen Vorschlag“, brummte die graue Kuh Ludmilla.
Erna watschelte in die Mitte des weitläufigen Stalles. Sechs Kühe, zwei Pferde, acht Schweine und ein Ochse lebten in den Boxen, die von dem Mittelgang abgingen. Auf dem Dachboden war Heu gelagert, in einer Nische wohnte die Eule Hermione.

Die anderen Tiere bildeten einen Kreis um Erna. Die Ente räusperte sich, schüttelte ihre ergrauten Federn und forderte mit klarer Stimme: „Lasst uns den Heiligen Anderlecht anrufen. Er wird uns helfen.“


Die Tiere blickten einander an, schwiegen einen Moment, als ob sie den Ratschlag erst einmal verstehen müssten, und begannen dann vielstimmig durcheinanderzureden. „Ruhe!“, polterte Ochse Ambrosius in dröhnendem Ton. „Ich denke, Ernas Idee ist einen Versuch wert. Jemand dagegen?“


Wenn der Ochse so fragte, war kaum Widerspruch zu erwarten. So nickte die ganze Gesellschaft mit ihren Häuptern und Schädeln oder brummte zustimmende Worte. Erna breitete ihre Flügel aus und alle verstummten. Sie trat rückwärts in den Kreis der Tiere zurück und sagte dabei: „Lasst uns beginnen!“


Alle Tiere riefen nun den Heiligen Anderlecht in ihrer Sprache an. Der Stall war erfüllt von Gegrunze, Gewieher, Gebell, Gegacker, Geschnatter, Gemuhe, Gemähe und Gegurre.


Die Anrufung zeigte Erfolg. Mit einem Donnerschlag erhob sich eine Rauchwolke inmitten des Kreises der Tiere. Aus dem verwehenden Qualm erschien der Heilige Anderlecht. Er war ein bärtiger Kerl, dessen wuscheliges Haar von einer roten Mütze gebändigt wurde. Anderlecht war so groß, dass er nur gebückt im Stall kauern konnte. Sein Mantel bestand aus grobem Stoff, der an zahlreichen Stellen mit rostbraunen Flicken ausgebessert war. An seinen Füßen trug er schwarze Lederstiefel, denen eine Vielzahl an Wanderungen anzusehen war.


„Ihr habt mich gerufen“, tönte er mit dunkler Stimme durch den Raum. „Was ist euer
Begehr?“ Kein Tier rührte sich, kein Laut war zu hören. Alle starrten stumm mit weit geöffneten
Augen den riesigen Anderlecht an.


Schließlich fasste sich wieder Ente Erna ein Herz und trat vor: „Verehrter Anderlecht, habt Dank, dass Ihr so schnell erschienen seid. Große Not treibt uns dazu, euch heute am Heiligen Abend anzurufen. Es verhält sich nämlich bei Hofe so: Die Bauersleut sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Er, der Bauer, poltert schon am Nachmittag gröhlend
durchs Haus, trinkt Schnaps und vernachlässigt unseren Hof.

An manchen Tagen erhalten wir Tiere überhaupt nichts zu essen. Und sie, die Bäuerin, sitzt Abend für Abend weinend am Fenster. So kann es nicht weitergehen. Doch was können wir tun?“ Der riesige Anderlecht nickte zustimmend mit dem Kopf, wobei er zweimal mit dem Scheitel an die Holzdecke krachte. Er hob an: „Euern Bauern fehlt es an Manchem, das erklärt ihren Zustand. Jemand müsste es ihnen schenken.“ Anderlecht blickte zwischen
den Tieren umher.


„Wie sollen wir das machen?“, fragte eine Maus vom Gatter des Schweinekobens. „Wir haben doch nichts.“

„So kann man sich irren“, schmunzelte Anderlecht und ließ sich mit einem Plumps auf den Hosenboden nieder. Das Stroh dämpfte den Aufprall, dennoch bebte der Boden. Er zog einen alten Jutesack unter seinem Mantel hervor.


„Hierin habe ich den Sand verglommener Sterne. Wir nennen ihn Weihnachtssand, denn dieser Sand ist etwas ganz Besonderes: Er kann Eigenschaften aufnehmen und weitergeben. So kann jedes Tier des Hofes den Menschen etwas von sich schenken. Am Ende müsst ihr nur den Staub im Haus der Menschen verteilen, dann nehmen sie
diese Eigenschaften in sich auf.“


Sagte es und verschwand in einer Rauchwolke, wie er gekommen war. Den Sack mit dem Sand hatte er dagelassen. Ente Erna trat vor und öffnete mit ihrem Schnabel den Strick am oberen Rand. Alle Tiere blickten in die Sacköffnung.


„Scheint ganz normaler Sand zu sein“, meinte das schwarze Katerchen. Er hieß Schnapp. „Ob er uns angeflunkert hat? Vielleicht wollte er uns nur trösten?“ „Red‘ keinen Unsinn“, fauchte es von oben. Eule Hermione kam von einem der
Deckenbalken hinunter in den Kreis geschwebt. Sie zog den Sack noch weiter auf und stocherte mit ihrem Schnabel im Sand herum. Anschließend sprach sie zu den anderen Tieren: „Ich weiß, wie man den Zaubersand anwendet. Ihr müsst den Sack berühren und ganz stark an das denken, was ihr den Menschen schenken wollt. Wählt eure beste
Eigenschaft. Ich beginne. Von mir sollen die Bauersleut Weisheit bekommen.“


Sagte es, berührte mit ihrer Stirn den Sack mit dem Weihnachtssand, kniff die Augen zusammen und verharrte einen Moment regungslos. Dann öffnete sie wieder die Lider und forderte die anderen auf: „Jetzt ihr!“.


Zunächst rührte sich keiner. Schließlich watschelte Erna zum Sack und verkündete: „Ich schenke ihnen meine Geduld.“ Sie hielt ebenfalls kurz ihre Entenstirn gegen den Sack und trat zurück in den Kreis.


Das Pferd Gesine trabte vor, kniete sich auf die Vorderläufe und beugte seinen großen Schädel auf den Weihnachtssand: „Von mir erhaltet ihr meine Leidenschaft.“ Ochse Ambrosius stapfte neben Gesine und brummte: „Ich gebe euch meine Kraft.“ Ein Tier des Hofes nach dem anderen trat an den Zaubersack. Der Esel gab seine
Ausdauer, das Schaf seine Sanftheit und das Schwein Elsmar seine Zuversicht.


Die wundersame Begebenheit hatte sich in Windeseile unter den Tieren verbreitet. Auch die Bewohner des angrenzenden Waldes waren zum Stall gekommen und sahen einige Zeit der Zeremonie zu.


„Wir würden auch gerne unseren Beitrag für die Menschen geben.“ Hirsch Gardowan trat in den Stall. Er erklärte in die Runde: „Wenn es den Menschen gut geht, halten sie auch die Wälder und die darin lebenden Tiere in Ehren. Ich möchte ihnen von meiner Aufrichtigkeit geben.“ Sprach’s und hielt die Spitze seines Geweihes an den Sack.
Nun kamen viele weitere Tiere in den Stall geflattert, gelaufen oder gekrochen. Das Rotkehlchen verschenkte seine Freude, das Eichhörnchen seine Wendigkeit, der Fuchs seine Schläue und das Reh seine Sanftheit. Sogar ein Schmetterling, ein Maulwurf und eine Biene gaben ihre besten Eigenschaften. So füllte sich der Sack weiter mit
Wandlungsfähigkeit, Erdverbundenheit und Emsigkeit. Die Fledermaus gab ihr Orientierungsvermögen.


Schließlich traten alle Tiere zurück und der Sack lag wieder alleine in der Mitte des Kreises. Ein zartes Leuchten ging mittlerweile von ihm aus. „Noch jemand?“, fragte die Eule in die Runde.


Zwei Tiere bahnten sich einen Weg durch die Versammlung. Es waren Hofhund Gustav und Katerchen Schnapp. „Wir wollen auch noch“, sprach Gustav und presste seine feuchte Nase an den Sack. „Von mir erhalten Sie meine Achtsamkeit.“


Als Letztes kam das Katerchen an die Reihe. „Eines darf nicht fehlen“, meinte es, „von mir bekommen der Bauer und die Bäuerin die Fähigkeit zu rasten. Ich lebe den gesamten Tag bei ihnen und weiß, dass den Beiden dies ganz besonders fehlt.“ Als er seine schwarze Stirn an den Sack hielt, war in der Stille sein leises Schnurren zu hören.
„Das soll genügen“, verkündete die Eule, packte mit ihrem Schnabel den Sack und flog durch die Stalltür zum Haus.

Oben in der Knechtkammer hatte Katerchen Schnapp bereits ein Fenster aufgestoßen, so dass Hermione problemlos ins Haus gelangte. Sie verteilte den feinen Staub unbemerkt in allen Zimmern und schwebte dann wieder in den Stall zurück.


„Nun müssen wir abwarten. Wir haben Heiligabend, die Menschen werden den Lichterschein in ihrer Stube genießen. Ich denke, heute wird nichts mehr geschehen“, meinte Ochse Ambrosius und ließ sich im Stroh nieder. Alle Tiere zogen sich in ihre Ecken und Winkel zurück und kuschelten sich ein. Diese Nacht würde besonders kalt
werden. Auch die Waldbewohner traten ins Freie und suchten ihre Behausungen auf. Doch der Ochse sollte sich täuschen.

Kaum eine halbe Stunde nachdem Eule Hermione zurückgekehrt war, kam der Bauer zur Stalltür herein.

Er warf der Kuh, dem Ochsen und dem Pferd jeweils eine Decke über und schüttete zusätzliches Stroh in die
Schweinekoben. Dann stellte er als letztes eine Laterne ins Fenster. Wieder an der Türdrehte er sich noch einmal um und sprach in den Stall „Heute ist die Heilige Nacht. Da sollt auch ihr es gemütlich haben. Morgen früh gibt es eine extra Portion Futter.“

Da wussten die Tiere, dass der Heilige Anderlecht sie nicht angeschwindelt hatte.


Erzählt von Peter Bödeker

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